Ein Tag im Leben einer Familie
Fenster meiner Nachbarn
Ein Tag im Leben einer Familie aus der Nordstadt, einem der sozialen Brennpunkte Kassels. „Es ist deutsch in Kaltland“ lautet es in einem Lied der Band Toxoplasma aus dem Jahr 1995, das auch und gerade im Jahr 2012 auf die soziale Entwicklung in der Republik passt. Die Schere des Wohlstands spreizt sich immer weiter auf, viele Menschen leben am Rande des Existenzminimums. Diese Familie lebt jedenfalls von wenig Geld.
Die Familie wohnt im Erdgeschoss eines Altbaus nahe der Universität, die Fenster zur Straße sind mit blickdichten Stoffen verhängt, davor zahlreiche Kinderpuppen. Der Putz blättert von der Hausfassade, in der Straße mischen sich die Welten. Studenten wohnen wegen günstiger Miete und der Nähe zur Uni im gleichen Haus wie Sozialhilfeempfänger. Mit dem Unterschied dass die Studenten nach dem Studium wieder wegziehen.
Ich bin dort, da mir das Fenster schon früher aufgefallen war und es in mir die Frage aufgeworfen hatte, wer dahinter lebt. Kontakt mit der Familie habe ich tags zuvor bekommen, sie haben mich eingeladen sie zu besuchen. Auf dem Hinterhof hat sich die Familie in einer offenen Garage ein paar Tische und Sofas zusammengestellt und feiert mit ihren Nachbarn ein Grillfest. Es ist der erste Mai, „Tag der Arbeit“. Die traditionell von Gewerkschaften organisierten Arbeiterdemonstrationen finden jedoch woanders statt. Die Familie lebt von der dürftigen Rente des Vaters und vermutlich bekommt die Mutter Arbeitslosengeld. Als Hobby repariert er alte Computer.
Ich erkläre noch einmal warum ich sie fotografieren will, die Kinder schauen mich neugierig an. Sie haben heute vom Kindergarten und der Schule frei, verbringen den Tag mit ihrer Familie und spielen auf dem Hinterhof. Während die Mutter grillt, toben sie zwischen den Fahrrädern herum. Eine Taube hat ihr Nest in einem Busch zum Nachbargrundstück gebaut, die Kinder krabbeln hinein, die Mutter ruft sie wieder zurück. Das klassische Mutter-Kinder-Katz-und-Maus-Spiel. Weiter geht es mit einem alten Einkaufswagen, bis sich eine der Töchter daran den Arm aufreißt und die lange Schramme blutet. Weinend rennt sie zu ihrer Mutter, die inzwischen das Geschirr in die Wohnung getragen hat, die ich nun leider doch nicht betreten darf. Vielleicht ist es der Familie peinlich, vielleicht sind sie auch einfach mißtrauisch. Die Kinder sind mir gegenüber jedoch aufgeschlossen, interessiert. Ich bin mittendrin.
Nach einer Weile vergessen die Familien fast, dass ich da bin, ich kann mich frei zwischen ihnen bewegen, ohne dass ich stören würde oder die Kamera im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Normalerweise dauert so etwas sehr lange, hier geht es schnell. Die ideale Voraussetzung um eine subjektive Dokumentation zu entwickeln, einen Tag aus ihrem Leben zu erzählen.
(Serie in Auszügen, von der Familie z.T. nur für Print freigegeben)
© 2012 Christian Schauderna